Es muss eine stille Übereinkunft gewesen sein, ein Bekenntnis, das wir nicht in Worten ablegten, sondern in einem Gefühl. Ganz gleich wie viel Zeit verging oder wie weit wir voneinander entfernt waren, blieb es zwischen uns erhalten.
Weder Koray noch ich konnten später sagen, ob wir es vielleicht doch einmal ausgesprochen hatten. Er war sich fast sicher, und ich war fast sicher, dass das nicht geschehen war. Schließlich war ich erst fünf und er sieben Jahre alt, als er die Türkei verließ.
In dem Alter spricht man nicht über diese Dinge, man denkt nicht einmal daran, doch Koray behauptete, er habe immer daran gedacht. Ans Heiraten. Er wollte mich heiraten.

 

 

Auch wenn es noch nicht so warm war wie in den Sommernächten, so streifte Ilayda doch angenehm milde Luft. Es gab keine Laternen, deren Schein das Mondlicht gestört hätten, und es reichte aus, ihr den Weg zu erhellen. Das vielstimmige Sirren der Zikaden hatte sich schon dauerhaft in ihren Ohren eingenistet. Es gehörte zum Tag und zur Nacht gleichermaßen.
Als Ilayda den Strand erreichte, wurde es allmählich leiser, denn unter dieser Kuppel spielte nur die Sinfonie des Meeres. Sie setzte sich in den Sand und lauschte.
Erst war es nur ein Wispern, ein zartes Murmeln und Raunen, das sich in ihr Herz schlich, und jeden Ton, jede Bewegung tausendfach wiederholte. Geduldig wiederholte und wiederholte, bis Ilayda seine Botschaft endlich verstand. Es war das Wasser im Kübel, das man ihr stets hinterher gegossen hatte. Das Wasser, das ihr das Meer nun in großzügigen Wellen zuströmen ließ, um ihr zu versprechen, dass jede ihrer Reisen leicht verlaufen werde, dass jede Rückkehr ebenso leicht war und dass sie darauf vertrauen konnte. Immer.

 

Wir überquerten die Hauptstraße und stiegen zwischen hohen Natursteinmauern eine Anhöhe hinauf. Wir gingen langsam, nicht nur, weil es schon sehr heiß und der Weg steil war, sondern weil mir jeder Schritt wie ein Jahr vorkam, das ich rückwärts ging. Von sechzehn auf null. Schritt für Schritt. Doch es waren mehr Schritte bis zum steinernen Tor, in dessen Säulen Bogenmuster geschlagen waren. Mehr Schritte. Ich hörte auf zu zählen und setzte einen Fuß vor den anderen. Immer einen vor den anderen. Durch das Tor hindurch und weiter. Würde er kommen? Mein Vater?

 

 

"Ich wusste immer, dass es diesen Einen irgendwo gibt. Dafür bin ich um die ganze Welt gereist, habe wichtige Erfahrungen gemacht und ihn schließlich in der Stadt gefunden, in der ich geboren  wurde." Meine Oma lächelte und wirkte plötzlich sehr jung.

"Deine große Liebe kannst du nicht verlieren, Jannah, glaub mir. Sie ist Teil von dir und ihm zugleich. Sie gehört euch beiden."

 

 

Zwischen ihm und mir breitete sich eine wortlose Ruhe aus, eine wohlige Stille, einfach so. Das Schweigen war eine Seidenraupe, die ihren dichten Kokon um uns spann und uns von allem abschirmte. Als seine Fingerspitzen meine berührten, gab es einen Funken. Ein winziges Aufblitzen. Und ein seltsam taubes Gefühl an der Stelle, als hätte ich einen Schlag bekommen.

 

 

 

Jemand hatte neben der Tanne ein großes Windlicht angezündet, das seinen sanft flackernden Schein auf die glitzernden Zweige warf.

In dieses märchenhafte Bild wurde auf einmal eine überirdische Melodie gegossen. Eine meisterhaft gespielte Trompete erklang. Stille Nacht, heilige Nacht. So schön, dass es schmerzte, so rein und betörend, dass sich Sehnsucht hinter meinen Augen staute.

 

 

Die Äste des Baumes waren über und über mit Bändern geschmückt. Manche sahen aus wie Teile von Putzlappen, manche waren kunstvoll gewebt oder geflochten. Manche nur weiß oder grau, manche einfarbig oder in sich gemustert. Lang oder kurz, heil oder in Fetzen. So viele Wünsche. So viele Träume und Hoffnungen wehten da vor uns im Wind.